Das Haus am Ende der Straße war klein. Leiser Rauch kräuselte sich aus dem Schornstein, der etwas windschief über den Dachgiebel hinaus ragte. Es war sehr still in dem mondbeschienen Gärtchen, das sich vor dem Küchenfenster erstreckte. Die schmale Buchsbaumhecke war vom Schnee bedeckt, der am Vorabend gefallen war, und zwischen den Beeten hatte nur ein Hase seine Fußstapfen hinterlassen. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war ein leises ´klonk, klonk‘, begleitet von einem unscheinbaren Klingeln. Das Geräusch kam vom Fensterbrett der Küche. Dort saß, beinebaumelnd und mit mürrischem Gesicht, im Halbschatten des Mauervorsprungs ein kleines Männchen. Die Hände auf den Ziegeln abgestützt, war dem Wichtel seine Zipfelmütze weit über die Ohren gerutscht. Die kleine Glocke, die am Zipfel befestigt war, bimmelte leise im Takt der wippenden Füße. Mino hatte schlechte Laune. Diesmal hatte er wirklich Mist gebaut. „Den Bogen endgültig überspannt“, wie seine Mutter es ausgedrückt hatte. Schließlich sei es eine Ehre, in den Werkstätten des Weihnachtsmanns zu arbeiten, gutes Benehmen zu zeigen seine Pflicht.
Mino hatte, wie sein Vater und drei ältere Brüder vor ihm, sein Handwerk in der Weihnachtsküche gelernt. Dort gab es die leckersten Schokoladen, Marmeladen und Gebäcke, die ein Wichtel nur zaubern konnte und Mino liebte seine Arbeit zwischen den brodelnden Töpfen und vor den heißen Öfen, wo es so gut duftete. Aber die Versuchungen waren einfach zu groß: Immer wieder fielen ihm wertvolle Zutaten `versehentlich‘ in den Mund, er zettelte Mehlschlachten an und veranstaltete Schlitterpartien auf dem mit Zierperlen ausgelegten Fußboden. Dass er aber heimlich Salz und Zucker für die Marmeladenproduktion vertauscht hatte, brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Mit einem Donnergrollen hatte man ihn von seinen Aufgaben in der Küche befreit, damit er seine Energie und Kreativität auf andere Art „sinnbringend einsetzen“ konnte. Seufzend dachte Mino an das traurige Gesicht seines Vaters, der ihm immer wieder eingeschärft hatte, mehr Respekt und Achtsamkeit für seine Aufgabe zu zeigen. Stattdessen saß er nun hier, im kalten Schnee, am Ende einer langweiligen Straße. „So eine Piefigkeit!“, schimpfte er zu sich selbst, während er versuchte, sich auf der kalten Fensterbank die Finger zu wärmen. „Das man aber auch nicht mal ein bisschen Spaß haben darf! Aber nein… es musste ja gleich ein Außenposten sein…“. Minos Füße schwangen wieder schneller gegen die kahlen Steine und ließen das Glöckchen an seiner Zipfelmütze immer wilder klingeln bei dem Gedanken an die Ungerechtigkeit seiner erhaltenen Strafe. „Wunschfinder, pff“, grummelte der kleine Wichtel ironisch, „toll! Was für eine ´Ehre‘…“. Erneut kickte sein Fuß schwungvoll gegen das Mauerwerk.
Die „Wunschfinder“, wie sie in den Werkstätten des Weihnachtsmanns genannt wurden, waren Wichtel, die das ganze Jahr über unterwegs waren, von Haus zu Haus zogen und heimlich die Menschen beobachteten, um herauszufinden, womit sie ihnen eine Freude machen könnten. Die Wünsche wurden dann in die Werkstätten des Weihnachtsmanns weitergeleitet und dort zu liebevollen Geschenken umgestaltet. Seit Wochen sägten, hämmerten, nähten, backten und verpackten die Wichtel, um jedem Menschen seinen persönlichen Wunsch zu erfüllen. Für die Wunschfinder allerdings waren jetzt, kurz vor Weihnachten, nur noch die schwierigen Fälle übrig. Die, die schon alles hatten, die, die ohnehin nicht an den Weihnachtsmann glaubten- und die Griesgrämigen. Was `griesgrämig‘ bedeuten sollte, hatte Mino nie so ganz verstanden, wenn die Wunschfinder- Wichtel sich verzweifelt die Haare rauften über diejenigen, denen Freude so fremd war. Inzwischen wusste er, wovon seine Freunde gesprochen hatten: Seit drei Tagen beobachtete Mino jetzt schon den alten Mann, der hinter den Fenstern des kleinen Hauses am Ende der Straße wohnte. Bereits um sieben Uhr morgens stand der „Grummel“, wie Mino ihn heimlich getauft hatte, auf. Wusch sich, zog seine immer ordentlich bereit gelegten grauen Kleider an, deckte den Tisch, nahm Mantel und Hut vom Haken und trat vor die Tür. Die Hände tief in den Taschen vergraben und den Kragen hochgeschlagen, stapfte er dann die Straße hinunter, überquerte die kleine Brücke, die ins Ortszentrum führte und kaufte sich in der Bäckerei neben der Kirche ein Brötchen und die Tageszeitung. Dabei hatte er an allen drei Tagen den freundlichen Gruß der Bäckerin ignoriert und nur mit einem mürrischen Grummeln auf freundliche Worte geantwortet. Wütend hatte er einen Hundehalter angeschrien, dessen Dackel seine Nase forsch in Richtung seiner Brötchentüte ausgestreckt hatte und auch der Postbote, der ihn am Vortag gebeten hatte, das Paket für einen verreisten Nachbarn anzunehmen, hatte kopfschüttelnd das Weite gesucht als Grummel in verjagte. Lächeln hatte Mino den alten Herrn noch nie sehen.
Das schlimmste war aber, dass Mino heute endlich, endlich einen Wunsch finden und an die Werkstätten berichten sollte, die Zeit wurde ihm knapp. Nicht nur, dass die Produktion des Geschenks anlaufen musste, Mino wollte auch endlich wieder nach Hause, zurück in die warme Backstube und zu seinen Freunden. Dafür musste er allerdings diese eine Aufgabe erfüllen: Etwas finden, mit dem er Grummel eine Freude bereiten konnte. Wieder versetzte Mino der Fensterbank unter ihm einen Tritt mit seinen kleinen Lederstiefelchen. Was sollte er nur tun? Ein paar Mal hatte er schon überlegt, einfach einen klassischen Standardwunsch für Grummel abzugeben. Pralinen, eine neue Pfeife, oder vielleicht ein schöner Schlüsselanhänger? Warum nicht? Warum nicht… Wieder drehte sich Mino um und ließ seinen Blick auf dem Alten ruhen, der gerade am Esstisch in seiner Zeitung blätterte. Offensichtlich hatte er Schwierigkeiten mit dem Kreuzworträtsel und tippte deshalb missmutig mit dem Kugelschreiber auf die Tischunterlage. Irgendwie, fand Mino, würden ihm Pralinen nicht gerecht werden. Im Gegenteil, er könnte die feinen Aromen überhaupt nicht zu schätzen wissen. Mino ließ den Blick erneut durch die kleine Küche wandern, in der der alte Mann saß. Alles war penibel ordentlich, kein Fleck war auf der polierten Arbeitsfläche zu sehen. Und trotzdem wirkte der Raum irgendwie… Mino überlegte… - „Kalt“, dachte er, „und leblos“. Aber warum nur? Was fehlte hier? Auch eine Pfeife könnte hier kaum mehr Gemütlichkeit schaffen. Frustriert wandte Mino sich ab, für heute reichte es. Ihm war kalt und eine gute Tasse Tee in Gesellschaft seiner Freunde würde ihm vielleicht endlich eine Eingebung für Grummel liefern.
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Am Heiligen Abend hatte es gegen Mittag erneut angefangen zu schneien. Vor dem kleinen Haus am Ende der Straße glitzerten die Flocken auf dem Buchsbaum. Doch Rauch stieg nicht aus dem Schornstein auf, das Haus war verlassen. Auch Minos Glöckchen war weit und breit nicht zu hören. Aber von der Haustür aus führten Fußstapfen zur Brücke und in Richtung der kleinen Bäckerei. Neben den großen, tiefen Spuren eines alten Mannes fanden sich dort auch die kleinen, schnellen Schritte eines Wichtels. Mino hatte rennen müssen, um mit dem Grummel mithalten zu können als dieser sich vor einiger Zeit wutschnaubend in Richtung Ort aufgemacht hatte. Jetzt hatte er die Kapuze seines dicken Mantels hochgeschlagen und stand, die Hände in den Taschen vergraben, vor der großen Fensterscheibe der Bäckerei. Drinnen war es hell, Kerzen brannten und an einem der Cafétische saßen sich zwei Menschen gegenüber. Sie erzählten sich Geschichten und lachten. Vor ihnen standen eine Kanne Tee, zwei große Becher und ein Teller mit Weihnachtsgebäck. Gerade steckte der Grummel sich einen der Kringel in den Mund. Mino schmunzelte. Es waren seine Kekse, die er nachts heimlich in den Wichtelwerkstätten gebacken hatte. Und seine besonderen Zutaten, die nicht leicht zu beschaffen gewesen waren.
Das Treffen mit seinen Freunden vor zwei Tagen hatte den Ausschlag gegeben. Während Mino dort gesessen und die anderen dabei beobachtet hatte, wie sie sich mühelos unterhielten, Witze erzählten, Sorgen teilten, da hatte er auf einmal gewusst, was dem Alten in dem kleinen Haus am Ende der Straße fehlte. Also war er in die Küche geschlichen und hatte das Buch mit seinen liebsten Rezepten aufgeschlagen und sein Werk begonnen: Neben Eiern, Mehl und Zucker hatte er Dinge in den Teig gerührt, die in der Wichtelküche in einem besonders gehüteten Schrank aufbewahrt wurden: ein wenig Offenheit, Mitgefühl, eine Prise Vertrauen und ein guter Schuss Neugier.
Den Schluck Vergesslichkeit hatte er bereits morgens in den Kaffee des alten Mannes gerührt, der daraufhin prompt seinen Hut hatte in der Bäckerei liegen lassen, während er dort seine Zeitung kaufte. Das Brot der Bäckerin hatte er mit einem Löffelchen Mut gestärkt, den sie durchaus brauchte, um den Grummel anzurufen und ihn zu bitten, seinen Hut doch gleich abzuholen, bevor er über die Feiertage kalte Ohren bekäme. Nun saßen die beiden dort gemeinsam am Tisch, alle Griesgrämigkeit und Wut schienen von dem Alten abgefallen zu sein. An der Tür der Bäckerei hing längst das Schild „GESCHLOSSEN – Wir wünschen Ihnen friedliche Weihnachtstage“. Und während draußen die Schneeflocken leise gegen die Scheiben trieben, begann nebenan der Kirchenchor zu singen. Mino ließ dazu seine kleinen Glöckchen im Takt klingeln. Es war Weihnachten und er hatte einem grummeligen Alten Freude geschenkt.
Kira.Winders@gmx.de